Ist ein im Wasser lebendes schuppiges Tier mit Flossen, mit Parasiten noch koscher? Und was hat das mit Zertifizierung zu tun? In der Financial Times vom 22. Februar ist ein faszinierender Artikel [1] über eine sehr spezielle Fragestellung aus dem Bereich der Koscher-Zertifizierung veröffentlicht worden. Koscher sind Lebensmittel, die nach dem ´Jüdischen Speisegesetz´[2] für den Verzehr erlaubt sind. Zum Beispiel, im Wasser lebende Tiere mit Schuppen und Flossen. Vorschnell als Fisch bezeichnet. Fische gelten für gläubige Juden als wichtige Lebensmittel. Sie sind zudem weder fleischig noch milchig und können deshalb nach Belieben mit anderen Lebensmittel kombiniert werden. Das macht sie noch attraktiver. Nach streng rabbinischer Auslegung der biblischen Gesetze ist der gleichzeitige Verzehr von fleischigen und milchigen Speisen verboten. Sie benötigen also im Haushalt meist zweifaches Geschirr und Besteck, zweifache Geschirrwäsche etc..
Sie können sich vorstellen, welche Anforderungen dies für die industrielle Herstellung koscherer Lebensmittel oder koscherer Medikamente bedeutet. Alle Ausgangssubstanzen für die Herstellung von Substanzen, die wieder Ausgang für die Herstellung anderer Substanzen sind, müssen koscher sein. Dies gilt auch für die Darreichungsformen von Medikamenten. Denken Sie bitte an Gelatinekapseln. Gelatine wurde lange Zeit aus tierischen Produkten hergestellt. Dies gilt ebenfalls für Reinungsmittel von Produktionsanlagen. Deren vollständige Herstellungsprozesse müssen ebenfalls koscher-zertifiziert sein. Eine außerordentlich anspruchsvolle Anforderung. Ein Freund erzählte mir vor Jahren, dass er und seine Firma sich sehr aufwändig bemühten, die Koscher-Zertifizierung für industrielle Reinigungsmittel für den israelischen Markt zu erlangen.
Die hohen Ansprüche gelten nicht nur für den gesamten Produktionsprozess sondern auch für die Beschaffungslogistik und den Prozess der Qualitätskontrolle. Hier kommt die Zertifizierung ins Spiel. Der Begriff Zertifizierung stammt ab vom lateinischen ´certe´ = bestimmt, gewiss, sicher und ´facere = machen, schaffen, verfertigen. Er fasst alle standardisierten Verfahrensvorschriften zusammen, deren Einhaltung unerläßlich sind, um wichtige Anforderungen (z.B. Qualität, Nebenwirkungen besser unerwünschte Effekte) zu erfüllen. Zum Beispiel, dass konservierte Ölsardinen, die als koscher bezeichnet werden, auch wirklich koscher sind. Was aber, wenn in ihnen Parasiten, z.B. kleine Würmer leben? Was, wenn die Parasiten beim Eindosen bis zur Unkenntlichkeit beschädigt werden. Welche Parasiten leben ohnehin mit ihren Wirtstieren/ Fischen in Symbiose? Welche sind blinde Passagiere? Welche Auswirkungen haben veränderte ökologische Bedingungen auf den Parasitenbefall? Hilft da nur noch die DNA-Analyse? Ohne den Koscher-Stempel der US-amerikanischen Orthodox-Union brechen für Lebensmittelanbieter unter Umständen wichtige Märkte weg.
Lassen Sie uns das Zertifizierungsspiel noch etwas komplexer gestalten, mit einem Sprung in den Bereich der Herstellung von Medikamenten. In der Folge des Contergan-Skandals in 1961, bei dem tausende missgebildeter Kinder zur Welt kamen, weil Schwangere ein Beruhigungsmittel einnahmen, das den Wirkstoff Thalidomid enthielt (s. Abbildung) [3]. Also ein Spiegelbild des Wirkstoffes, der unbedenklich war. Contergan rückte die Nachvollziehbarkeit aller, für die Zulassung von Medikamenten für den freien oder rezeptpflichtigen Verkauf relevanten Prozesse in den Mittelpunkt des Interesses von Zulassungsbehörden und Gerichten. Sie wollten im Falle von Schädigungen von Patienten alle Abläufe/ Prozesse nachvollziehen können, um die Ursache und die Anlässe nachvollziehen zu können. Über 30 Jahre hinweg!!!
30 Jahre lang muss also ein Unternehmen alle zulassungsrelevanten Daten auf sicheren Datenträgern aufbewahren. Da bleiben nicht allzuviele übrig. Wann gab es CDs, DVDs? Wie lange mag es USB-Sticks geben? Daten in der Cloud aufbewahren? Auf welchem Rechner? Welcher Firma? Und im Falle von Insolvenzen der Datenträger-Eigner? Vielleicht bleibt da nur Papier. Wo lagern? Das sollte kein Problem sein! Leider doch. Bis zur Zulassung eines Medikamentes dauert es ca. 10 Jahre. In dieser Zeit fallen bis zu 1.000.000 Seiten an, die im Rahmen der Zulassung an die zulassende Behörde geschickt werden müssen und natürlich im Unternehmen sicher und recherchierbar abgelegt sein müssen. Erhobene Daten müssen verfügbar sein. Verfügbar heißt auch, dass die Messgeräte, mit denen sie erhoben wurden, noch existieren, die Qualifikationsnachweise der Mitarbeiter, die sie bedienten. Alle Rechner und Betriebssysteme mit denen zulassungsrelevante Daten erhoben wurden, alle Sourcecodes von Programmen, jede Version, etc. . Ein technisches Museum der vergangenen 10 Jahre der Entwicklungszeit des Medikamentes für 30 Jahre funktionsfähig aufbewahren. Inklusive Know-How. Gestatten Sie mir eine meiner Lieblingsanmerkungen im Zusammenhang mit Know-How in Unternehmen. In 50 Prozent aller DAX-Unternehmen gibt es keine über 50jährigen Mitarbeiter mehr. Alles in allem ist es also nicht überraschend, dass die Kosten für die Entwicklung eines neuen Medikaments gegen 1 Mrd. Euro gehen.
Noch ein Sprung zurück zur Koscher-Zertifizierung. Für strenggläubige Juden ist es zudem unverzichtbar, dass im Rahmen der Herstellung koscherer Produkte mindestens ein strenggläubiger Jude am Produktionsprozess beteiligt sein muss.
Sie ahnen sicher, dass Zertifizierung, je nach Anforderungen des Unternehmens und der Kundengruppen und der Rolle und dem Selbstverständnis eines Mitarbeiters, für den einen die Hölle und für den anderen der Himmel ist.
Noch eine Anmerkung zum ´Jüdischen Speisegesetz. Was ist das Motiv, für die aus Sicht von Nichtjuden schwierig nachvollziehbaren Regelungen zu Speisen und deren Zubereitung. „Das vornehmste Motiv der Speisegesetze ist jedoch das in Lev 19,2 EU geforderte Ideal der Heiligkeit, nicht als abstrakte Idee, sondern als beherrschendes Prinzip im täglichen Leben der Männer, Frauen und Kinder. „Die Speisegesetze erziehen uns zur Herrschaft über unsere Gelüste, sie gewöhnen uns daran, aufkeimende Wünsche zu unterdrücken, ebenso auch die Neigung, die Freude am Essen und Trinken als Zweck des menschlichen Daseins anzusehen“ [2]
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1] FTD, Felix Victor Münch, Wurmkur, 22.02.2012, S.28
2] Wikipedia, Jüdische Speisegesetze, 23.02.2012
3] Thalidomid kommt als optische Isomere vor, dass heißt von Thalidomid gibt es zwei chemische Strukturen, die sich wie Bild und Spiegelbild verhalten. Das Gemisch beider Isomere nennt man Racemat. Beide verhalten sich unterschiedlich gegenüber linear-polarisiertem Licht [4]. Wichtiger ist, das sich beide Isomere des Thalidomids bezüglich ihrer physiologischen Wirkungen drastisch unterscheiden. Eines der Isomere ist teratogen (erbgutschädigend), das andere nicht. Wenn man das Gemisch beider nicht trennt, hat man die Wirkungen beider Substanzen. Fermentative Racemat-Trennung sind seit Pasteur (1858) bekannt, wurden im Falle Thalidomids/ Contergan offensichtlich nicht bedacht.
4] Linear-polarisiertes Licht besteht aus einer Überlagerung von links- und rechts-zirkular-polarisiertem Licht. Jedes Enantiomer kann nur eine der beiden Formen polarisierten Lichts absorbieren. Das soll es an Physiko-Chemie auch sein.
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